Neurodiversität im Job: Autismus, ADHS und Co. am Arbeitsplatz
Was bedeutet Neurodiversität?
Neurodiversität bedeutet zunächst neurologische Vielfalt, was die natürliche Verschiedenheit der menschlichen Gehirne und Denkweisen bedeutet. Der Begriff wurde in den 1990er Jahren geprägt und umfasst eine Reihe von neurologischen Entwicklungsvarianten wie Autismus, ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Legasthenie (Dyslexie) und viele weitere. Diese Bedingungen werden zunehmend nicht als Defizite, sondern als andere Arten des Denkens verstanden. Menschen mit solchen neurologischen Variationen bezeichnet man als neurodivergent, wohingegen Personen ohne diese Variationen als neurotypisch gelten. Neurodiversität zeigt sich in allen gesellschaftlichen Schichten und ist unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Ausbildung. Oft handelt es sich um “nicht sichtbare” Behinderungen, die man Betroffenen auf den ersten Blick nicht anmerkt.
In der Praxis bedeutet Neurodiversität am Arbeitsplatz, dass in einem Unternehmen Menschen mit unterschiedlichen neurokognitiven Profilen zusammenarbeiten. Schätzungen zufolge sind rund 15–20% der Bevölkerung neurodivergent, was einen erheblichen Anteil darstellt, der in Unternehmen oft unterrepräsentiert ist. Die Neurodiversitäts-Bewegung setzt sich dafür ein, dass diese neurologischen Unterschiede akzeptiert und wertgeschätzt werden. Bedingungen wie Autismus oder ADHS werden demnach nicht als Krankheit im klassischen Sinne betrachtet, sondern als Teil einer natürlichen Variationsbreite menschlicher Gehirne und keinesfalls als bloße „Leistungsdefizite“, sondern als Profile mit ganz eigenen Stärken und Schwächen.
Unsichtbare Behinderungen: Neurodiversität und Herausforderungen im Arbeitsalltag
Für neurodivergente Mitarbeiter können sich im Arbeitsleben besondere Herausforderungen ergeben, gerade weil ihre Bedürfnisse oft unsichtbar sind. Viele Betroffene, insbesondere Autist*innen, sind beispielsweise sehr empfindlich gegenüber Sinnesreizen wie Lärm, Licht oder Trubel. Ein geschäftiges Großraumbüro mit ständigem Geräuschpegel kann bei ihnen zu schneller Reizüberflutung führen. Die Folge sind Stress, Überforderung und ein hoher Bedarf, sich zwischendurch zurückzuziehen. Schon kleine Anpassungen wie regelmäßige Pausen in ruhiger Umgebung oder das Tragen von Noise-Cancelling-Kopfhörern können hier eine große Entlastung bringen. Ein weiterer Stolperstein ist oft die Kommunikation, denn autistische Personen tun sich mit den vielen unausgesprochenen Regeln am Arbeitsplatz schwer. Ironie, vage Anweisungen oder „zwischen den Zeilen“ kommunizierte Erwartungen führen leicht zu Missverständnissen. Auch Menschen mit ADHS kämpfen im Büroalltag eher mit Konzentrationsproblemen und der Organisation ihrer Aufgaben. Unklare Rollenverteilungen, fehlende Struktur und wechselnde Informationskanäle können für neurodivergente Beschäftigte besonders verwirrend sein. Oft fehlt es an Transparenz, beispielsweise darüber, was von ihnen in einer bestimmten Rolle genau erwartet wird.
Viele dieser neurologischen Unterschiede sind nicht sichtbar, was dazu führt, dass Kolleginnen und Vorgesetzte die Lage oft falsch einschätzen. Vorurteile und Unwissenheit im Team können neurodivergenten Menschen das Arbeitsleben zusätzlich erschweren. So werden Autist*innen leider noch oft als „nicht teamfähig“ abgestempelt, nur weil sie sich sozial etwas anders verhalten. Auch Perfektionismus und ein hohes Qualitätsbewusstsein sind bei neurodivergenten Beschäftigten verbreitet. Eigenschaften, die sie einerseits zu sehr motivierten und zuverlässigen Mitarbeitenden machen, können andererseits aber auch dazu führen, dass sie über ihre Grenzen hinaus arbeiten und in die Überlastung geraten.
Nicht zuletzt spiegelt sich die Herausforderung für neurodiverse Menschen im Arbeitsmarkt insgesamt wider. Trotz oftmals überdurchschnittlicher Qualifikationen sind viele Autist*innen ohne Anstellung. Schätzungen zufolge finden nur etwa 5–6% aller Autist*innen überhaupt eine Arbeitsstelle; selbst von Asperger-Autist*innen (einer milderen Form des Autismus) sind es nur rund 20%. Diese Zahlen machen deutlich, wie viel Potenzial ungenutzt bleibt. Für andere Formen der Neurodivergenz wie ADHS fehlen vergleichbare Daten, doch auch hier ist bekannt, dass Betroffene häufiger Schwierigkeiten haben, einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Arbeitsplatz zu finden. Oft verläuft ihre Erwerbsbiografie unstetiger, nicht zuletzt wegen fehlender passender Rahmenbedingungen.
Autismus am Arbeitsplatz – wie können Arbeitgeber Autist*innen unterstützen?
Angesichts dieser Herausforderungen stellt sich die Frage: Wie können Unternehmen ein inklusives Umfeld schaffen, in dem neurodivergente Mitarbeitende, wie beispielsweise Autist*innen, gut arbeiten können? Zunächst einmal gilt der Grundsatz: Jeder neurodivergente Mensch ist unterschiedlich. Was einer autistischen Person hilft, muss nicht für alle gelten. Dennoch gibt es bewährte Maßnahmen und Anpassungen, die vielen Betroffenen das Arbeitsleben erheblich erleichtern:
- Reizarme Arbeitsumgebung schaffen
Für Mitarbeiter*innen, die empfindlich auf Lärm, visuelle Reize oder Trubel reagieren, sollte nach Möglichkeit ein ruhiger Arbeitsplatz bereitgestellt werden. Ideal sind Einzel- oder Kleinstbüros statt Großraumbüros. Alternativ können Ruheräume angeboten werden, in die man sich zurückziehen kann, oder es kann für Lärmschutz gesorgt werden, vom Noise-Cancelling-Headset bis zu schallschluckenden Raumteilern. Auch einfache Hilfsmittel wie Sonnenbrillen oder das Reduzieren greller Beleuchtung können helfen. Diese Anpassungen an Autismus im Arbeitsumfeld reduzieren die Reizüberflutung deutlich. - Klare Kommunikation und Strukturen
Autistische Menschen schätzen ein transparentes, berechenbares Arbeitsumfeld. Arbeitgeber sollten Erwartungen, Aufgaben und Abläufe so klar und eindeutig wie möglich formulieren. Am besten werden Aufgaben schriftlich festgehalten und Prioritäten deutlich gemacht. Regelmäßiges Feedback und feste Ansprechpartner*innen helfen, Unsicherheiten abzubauen. Wichtig ist auch, Kommunikationswege zu vereinheitlichen. Wenn Informationen mal per E-Mail, mal im Chat oder mündlich nebenbei gegeben werden, steigt die Gefahr, dass etwas übersehen wird. Einheitliche, strukturierte Informationskanäle schaffen hier Abhilfe. - Flexibilität und individuelle Lösungen
Flexible Arbeitsmodelle kommen neurodivergenten Talenten oft zugute. Zum Beispiel kann Home-Office an bestimmten Tagen jemandem mit ADHS helfen, ungestört komplexe Aufgaben zu erledigen, oder einer autistischen Person erlauben, in gewohnter Umgebung zu arbeiten. Flexible Arbeitszeiten sind ebenso hilfreich, wie etwa Gleitzeit, wenn jemand morgens mehr Zeit braucht, um ins Arbeiten zu finden, oder die Möglichkeit, bei Reizüberflutung eine kurze Auszeit zu nehmen. Einen gewissen Spielraum bei der Aufgabengestaltung, wie beispielsweise besonders monotone Routineaufgaben abzugeben oder im Gegenteil verstärkt Spezialaufgaben zu übernehmen, die den Interessen entsprechen, kann die Produktivität steigern und Über- wie Unterforderung vorbeugen. - Sensibilisierung des Teams
Arbeitgeber sollten nicht nur auf die neurodivergenten Beschäftigten schauen, sondern auch auf das Teamklima. Durch Aufklärung und Schulung können Kolleg*innen Berührungsängste und Vorurteile abbauen. Wenn alle verstehen, was zum Beispiel Autismus wirklich bedeutet und dass gewisse Verhaltensweisen keine Absicht oder Unhöflichkeit sind, steigt die gegenseitige Akzeptanz. Eine offene Unternehmenskultur, in der über unterschiedliche Arbeitsweisen gesprochen werden kann, ist entscheidend. Gegebenenfalls kann eine externe*r Autismus-Coach, wie Florian Malicke, beratend unterstützen. Er teilt zum Beispiel in Vorträgen seine Erfahrungen, wie die Integration neurodivergenter Menschen im Job gelingt (siehe Vortrag „Neurodiversität am Arbeitsplatz: Chancen und Herausforderungen“). - Technische und organisatorische Hilfsmittel
Viele Anpassungen lassen sich mit bereits vorhandenen Technologien umsetzen. Beispielsweise können Planungs-Apps, digitale To-Do-Listen oder Speech-to-Text Software neurodivergente Mitarbeitende unterstützen. Es müssen nicht immer aufwendige Sonderlösungen sein. Oft genügen kreative Nutzung bestehender Tools und etwas Goodwill. Wichtig ist, gemeinsam mit der betroffenen Person herauszufinden, welche Hilfsmittel für sie sinnvoll sind.
Ein großer Vorteil für Arbeitgeber ist, dass die meisten dieser Maßnahmen gar nicht teuer oder kompliziert sind. Laut dem US Job Accommodation Network verursachen 59% der üblichen Arbeitsplatz-Anpassungen keinerlei zusätzliche Kosten für den Arbeitgeber. Viele andere Anpassungen sind mit minimalem Aufwand verbunden und oft geht es mehr um Flexibilität und Haltung als um teure Technik. Unternehmen wie SAP und Microsoft haben bereits gezeigt, dass die Inklusion neurodivergenter Mitarbeiter*innen gut umsetzbar ist und dass die Vorteile neurodiverser Teams den Aufwand mehr als aufwiegen. Entscheidend ist, dass Führungskräfte das Thema proaktiv angehen, sich Wissen aneignen und bereit sind, eingefahrene Prozesse zu überdenken.
CHECKLISTE
- Schaffen eines ruhigen Arbeitsplatzes durch Klein- oder Einzelbüros oder das Einrichten von Ruheräumen
- Zu Verfügung stellen von Lärmschutz wie etwas speziellen Kopfhörern oder Raumtrennern und gedimmter Leuchtmittel
- Schaffen eines transparenten und offenen Arbeitsumfeld
- Vereinheitlichung von Kommunikationswegen, feste Ansprechpartner*innen und regelmäßige Feedback Sessions
- Modelle mit einer flexiblen Arbeitszeitmodell und genug Spielraum für die Gestaltung der Aufgaben gewähren
- Aufklärung durch Coachings und Schulungen um Sicherheit zu gewährleisten und ein gutes Arbeitsklima zu schaffen
- Integration von technischen Hilfsmitteln, die bei der Umsetzung und Inklusion unterstützen
ADHS im Beruf: Sollte man es am Arbeitsplatz offenlegen?
Eine häufige Unsicherheit betrifft den Umgang mit der eigenen Diagnose: Muss oder sollte man beispielsweise ADHS gegenüber dem Arbeitgeber oder Kolleg*innen offenlegen? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, denn sie hängt von der individuellen Situation ab. Es gibt jedoch sowohl Gründe dafür als auch dagegen, offen mit einer Neurodivergenz am Arbeitsplatz umzugehen:
Gründe, die dagegen sprechen
Viele Betroffene haben Angst vor Diskriminierung, Kündigung oder Karriere-Nachteilen, wenn sie ihre Diagnose offenbaren. Leider sind Vorurteile gegenüber „psychischen Behinderungen“ am Arbeitsplatz noch verbreitet. Manche sind unsicher über ihre Rechte als Arbeitnehmer*in oder betrachten ihre ADHS schlicht als Privatsache, die niemanden etwas angeht. Solche Befürchtungen führen dazu, dass viele ihre Diagnose erstmal für sich behalten.
Gründe, die für Offenheit sprechen
Auf der anderen Seite kann es sehr belastend sein, ein wichtiges Thema ständig verbergen zu müssen. Die ständige Sorge, „aufzufliegen“, erzeugt Stress. Offenheit kann dagegen befreiend wirken, denn man muss keine Ausreden erfinden und kann authentisch sein. Außerdem können offizielle Hilfen oder Anpassungen beantragt werden, wenn die Personalabteilung von der ADHS weiß. Zusätzlich ist die Wahrscheinlichkeit höher, auf Verständnis und Unterstützung zu stoßen, wenn Vorgesetzte und Kolleg*innen Bescheid wissen und informiert sind. Viele Menschen machen die Erfahrung, dass das Arbeitsumfeld durchaus positiv reagiert, solange man offen und lösungsorientiert über das Thema spricht.
Letztlich ist die Entscheidung sehr persönlich und abhängig vom Vertrauen in das Unternehmen. Es gibt keine allgemeingültige Empfehlung. Wer unsicher ist, kann sich beraten lassen, beispielsweise von Ärzt*innen, Therapeut*innen oder der Schwerbehindertenvertretung im Betrieb. In größeren Firmen kann ein erster Ansprechpartner auch die Personalabteilung oder ein*e Inklusionsbeauftragte*r sein, um vertraulich auszuloten, welche Unterstützung möglich ist, ohne gleich allen alles offenzulegen. Wichtig ist, dass man sich mit der gewählten Strategie wohlfühlt. Ob man sich nun für oder gegen eine Offenlegung entscheidet, das Unternehmen inklusionsfreundlicher zu machen ist in erster Linie Aufgabe der Arbeitgeber.
Neurodiversität im Unternehmen: Vorteile neurodiverser Teams
Neurodiversität ist nicht nur eine soziale Pflichtübung, sondern kann für Unternehmen handfeste Vorteile mit sich bringen. Diverse Teams, zu denen auch neurodiverse Teams gehören, haben in Studien mehrfach besser abgeschnitten als homogene Gruppen. So wurde festgestellt, dass gemischte Teams aus neurodivergenten und neurotypischen Mitarbeitenden über eine höhere kollektive Intelligenz verfügen und qualitativ bessere Entscheidungen treffen. In einem Experiment mit Software-Testteams zeigte sich sogar, dass neurodivers aufgestellte Teams rund 30% produktiver arbeiten als Vergleichsteams. Eine aktuelle globale Untersuchung berichtet Ähnliches. Teams mit neurodivergenten Fachkräften erzielten eine 30% höhere Produktivität und zugleich eine erstaunliche Mitarbeiterbindungsrate von 90%. Diese Zahlen unterstreichen das enorme Potenzial, das in Neurodiversität steckt.
Doch woran liegt das? Verschiedene Denkweisen ergänzen einander. Autistische Beschäftigte bringen beispielsweise oft außergewöhnliche Fähigkeiten in analytischem und detailgenauem Arbeiten mit, erkennen Muster oder Fehler, die anderen entgehen. Menschen mit ADHS überzeugen durch Kreativität, Improvisationstalent und Energie, besonders in druckvollen Situationen. Dyslexiker*innen (Legastheniker*innen) haben mitunter ausgeprägte visuelle und problemlösende Fähigkeiten. Ein neurodiverses Team kann daher aus einem breiteren Erfahrungsschatz schöpfen. Es entstehen innovativere Lösungen, weil Aufgaben aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden. Studien deuten darauf hin, dass solche Teams sich auch schneller auf neue Herausforderungen einstellen können. Vielfalt steigert demnach die Agilität und Kreativität im Unternehmen.
Zudem profitieren nicht nur die direkten Beteiligten. Viele Maßnahmen, die neurodivergenten Mitarbeitenden helfen, kommen allen zugute. Eine reizärmere und fokussierte Arbeitsumgebung, transparente Prozesse oder eine klare Kommunikation erleichtern auch neurotypischen Kolleg*innen den Arbeitsalltag. So schafft Neurodiversität eine Win-Win-Situation, denn menschlich gewinnt das Unternehmen an Inklusionskultur und Arbeitgeberattraktivität und fachlich an Leistung und Innovationskraft. Kein Wunder also, dass immer mehr Firmen bewusst auf neurodiverse Teams setzen.
Ein paar Erfolgsbeispiele zeigen, wie es gehen kann:
Der Software-Konzern SAP startete bereits vor Jahren ein Autismustalent-Programm, um autistische Menschen gezielt in passenden Rollen einzustellen, beispielsweise in der IT-Qualitätssicherung, wo ihre Detailgenauigkeit geschätzt wird. Auch Auticon, ein in Deutschland gegründetes IT-Unternehmen, beschäftigt ausschließlich Autist*innen als Consultants im Tech-Bereich. Beide Unternehmen berichten, dass ihre neurodiversen Teams hervorragende Leistungen erbringen und die anfänglichen Bedenken gegenüber den notwendigen Anpassungen schnell verflogen sind. Diese Beispiele illustrieren den Mehrwert, den neurodivergente Kolleg*innen schaffen können, wenn man sie richtig einzubinden weiß.
Fazit
Neurodiversität im Unternehmen bedeutet, das Potential verschiedener Denkweisen zu nutzen. Mit relativ einfachen Mitteln, wie unter anderem ein wenig Offenheit, Flexibilität und dem Willen zu lernen, können Arbeitgeber ein Umfeld schaffen, in dem Autismus, ADHS & Co. keine Hindernisse, sondern Quellen von Stärke und Innovation sind. Die Arbeitswelt der Zukunft ist inklusiv und erkennt, dass andersdenkende Teams oft die erfolgreicheren Teams sind.